Chiptunes: Gameboy-Sounds und Atari-Riots

Elektro-Pop? Elektro-Hardcore? – Nein, das trifft es noch längst nicht auf den Punkt. – „Na gut, tausche ‚Elektro-‚ gegen ‚Atari-‚ oder ‚Gameboy-‚!“ – Ok, jetzt kommen wir der Sache schon näher. Als Chiptunes werden nämlich Musikstücke bezeichnet, die mithilfe einfachster Soundchips aus der Ära der Amiga-Heimcomputer und Gameboy-Videospiele erzeugt werden.

Reduziert, kreativ, eingängig

Das englische Wort „tune“ bedeutet übersetzt „Melodie“ oder „Lied“. Chiptunes zeichnen sich durch eine individuelle Klangcharakteristik, reduzierte „Kompositionsressourcen“ und unglaublich viel Kreativität aus – aus einem Minimum an Basishardware werden eingängige, mitreißende, komplexe Stücke erschaffen.

Das eigenständige Musikgenre mit seinen minimalistisch anmutenden Bit-Klängen hat längst eine riesige Fangemeinde. Zu dieser zählt sich auch Kirstein-Kollege Leo, der sich mit den Chiptunes unter anderem im Rahmen eines Remix Wettbewerbs, bei dem er sich mit Platz vier gegen mehrere hundert Teilnehmer durchsetzen konnte, auch schon ganz praktisch auseinandergesetzt hat. Wir haben Leo ein wenig zum Kultthema Chiptunes befragt.

Welche „Hörprobe“ kannst Du für Leute empfehlen, die Chiptunes noch nicht kennen und sich einen Eindruck vom typischen Sound verschaffen möchten?

Leo: Schwer, da eine Entscheidung zu treffen, denn da gibt es schon so einige Klassiker! Für den 8-Bit-Heimcomputer Commodore 64 gab es zum Beispiel das Computerspiel „The Great Giana Sisters“, den Weltraum-Shooter „Cybernoid 2“ oder die Reihe „R-Type“. Für „The Great Giana Sisters“ schrieb Chris Hülsbeck, einer der absoluten Pioniere der C64-Kompositionen, die Musik. Die Soundtracks sind allesamt schon sehr typisch für das Genre.

Chris Hülsbeck ist ein absoluter Pionier der C64-Kompositionen.

Naja, und wenn man sich die Gameboy-Szene anschaut, fallen mir sofort das Duo „8 Bit Weapon“ und der Künstler „Trey Frey“ ein. Und aus der Demoszene kommt „dubmood“, ein aus Schweden stammender Chiptune-Musiker, der mittlerweile sogar ein Chiptune-Label namens „Data Airlines“ betreibt. – Da man mittlerweile auf so ziemlich jeder Retro-Konsole Musik machen kann, ist das ganze Thema ziemlich breit aufgestellt und gewinnt mehr und mehr an Popularität.

Da man auf so ziemlich jeder Retro-Konsole Musik machen kann, ist das Thema ziemlich breit aufgestellt.

 

 

 

 

Konsole, Steckmodul, Tracker

Wie werden Chiptunes komponiert? Wie sieht das „Arbeitswerkzeug“ aus?

Leo: Für den Gameboy benötigt man zum Beispiel einfach die Konsole sowie ein Steckmodul mit Flash-Speicher und USB-Anschluss. Die Musik wird dann in Trackern wie „LSDJ“ oder „Nanoloop“ erzeugt, die den Soundchip des Gameboy ansteuern.

Was sind Tracker?

Leo: Tracker sind Musikprogramme (Software), die entweder den Soundchip des entsprechenden Gerätes direkt ansprechen (z. B. beim C64, Gameboy oder Konsolen) oder/und mit entsprechenden Samples arbeiten. Da diese Samples meist in einer Samplingrate von 8 kHz gespeichert werden, belegen sie besonders wenig Speicherplatz.

Die Samples werden meist in einer Samplingrate von 8 kHz gespeichert.

Die Tracker-Software verfügt über mehrere Kanäle, in die man Samples laden kann. So ein Sample ist eine kleine Einzeldatei, die zum Beispiel aussagt: „Ich bin ein Ton in der Tonhöhe C und erklinge eine Sekunde lang.“ Ebenso gibt es natürlich auch entsprechende Drum-Samples für alle Komponenten eines akustischen oder digitalen Schlagzeugs. Die Basis-Samples können von dem Tracker dann quasi „verbogen“ werden: Der Tracker legt für das Beispiel-Sample von vorhin fest: „Du bist jetzt kein Ton in der Tonhöhe C, sondern Du bekommst die Tonhöhe D und erklingst nicht eine Sekunde, sondern drei Sekunden lang.“

Auf diese Weise lassen sich äußerst kompakte Musikdateien erstellen, weil die abspielbare Version, das heißt eine Melodie, die mithilfe eines Trackers geschaffen wurde, letztendlich lediglich die Basis-Samples plus entsprechende Informationen zum Tonablauf, Länge usw. enthält. – Ähnlich wie bei MIDI-Dateien, die ebenfalls nur aus reinen Infos bestehen und selbst keine „anhörbaren“ Audiodateien sind.

Ok, verstanden. – Und mit diesen Trackern und Samples kann man dann also loslegen und seine eigenen Chiptunes kreieren …

Leo: Ja, Deine Songs erzeugst Du dann im sogenannten Rasterprinzip. Das Raster kann man sich praktisch wie eine Tabelle mit Spalten für die einzelnen Samples und Zeilen für die einzelnen Kommandos vorstellen. Man gibt dort also an, mit welcher Abtastrate, Lautstärke und Panning-Einstellung das Sample zu spielen ist.

Auf dem Gameboy und den anderen Konsolen funktioniert das ähnlich, nur dass dort entweder eingebaute Samples oder aber meist direkt der Soundchip angesteuert werden. Beim C64 wird direkt der auf dem Mainboard eingebaute MOS Technology SID (SID=Sound Interface Device) angesteuert.

Wenn man anfängt, Chip Music zu machen, hat man erst mal das Gefühl, man bräuchte einen Pilotenschein.

Woher bekommt man solche Tracker?

Leo: Die kann man von den Entwicklern gegen ein geringes Entgelt als ROM Datei erwerben und dann über den PC auf das Spielemodul kopieren. Ähnlich geht das auch bei Konsolen wie dem NES, Super Nintendo oder Mega Drive. Die Community für den Gameboy ist aber meines Erachtens größer als bei den anderen Konsolen. Für den Amiga gab es damals den „Ultimate Soundtracker“, für MS DOS den „FastTracker II“. Heute gibt es eine Menge Tracker, die auch ein wenig moderner sind, z. B. „Renoise“ oder „MilkyTracker“.

Wie kompliziert ist es, mit Trackern Musik zu machen?

Leo: Wenn man mit dem Musikmachen per Tracker anfängt, kann es schon sein, dass man im ersten Moment ein bisschen überfordert ist und das Gefühl hat: „Ok, was brauche ich hierfür? Einen Pilotenschein?“ – Aber es gibt wirklich jede Menge gute Tutorials im Netz, die einem beim Einstieg helfen.

Du beschäftigst Dich ja jetzt auch schon seit einer ganzen Weile mit Trackern und Chiptunes. Erzähle mal ein bisschen.

Leo: Zum ersten Mal habe ich mich mit Trackern beschäftigt, als ich den „’95 Raver’s Megamix“ von Dax gehört habe. Die Datei hat nur 693.46 kB Größe und schmettert mit einer Laufzeit von über 10 Minuten einige Rave-Hits der damaligen Zeit durch.

 

 

Mich hat das fasziniert, also habe ich angefangen, mich ganz allgemein mit der Chipmusic und der Demoszene auseinanderzusetzen bzw. die ganze Szene, die da dranhängt und in der sich auch eine Menge hochkarätiger Programmierer und Musiker tummeln, kennenzulernen.

In der Szene tummeln sich eine Menge hochkarätiger Programmierer und Musiker.

Digitale Kunst

Die Kombination „Programmierer und Musiker“ ist da charakteristisch, oder?

Leo: Ja, auf jeden Fall. Eines der Hauptziele der Demoszene ist es auch, neue Technologien hinsichtlich der Datenverarbeitung zu entwickeln. So gibt es zum Beispiel sogenannte 64K-Demos, die so extrem wenig Speicherplatz benötigen, dass sie mehr als 20 Mal auf eine herkömmliche Diskette (ich weiß, Disketten sind echt retro;) passen und gleichzeitig ganz einfach digitale Kunst sind, weil grafisch und musikalisch echt so einiges geboten wird. Die Faszination wird noch größer, wenn man bedenkt, dass alles, was da passiert, live (!) berechnet wird.

Die erste 64K-Demo, die ich gesehen habe, war „fr-08: .the .product“ von der Hamburger Gruppe „Farbrausch“. Der Musiker „KB“ hat dazu eigens einen Synthesizer programmiert, den er mit einem in Logic Audio komponierten Midifile angesteuert hat. Das Teil war grafisch und musikalisch für die damalige Zeit der Hammer. Wer sich für detaillierte Infos zur Entstehung von „fr-08: .the .product“ interessiert, da gibt es sogar eine eigene Internetseite.

 

 

Events und Projekte

Gibt es in Deutschland spezielle Events der Community?

Leo: Die sogenannten „Scener“ treffen sich alljährlich auf Demopartys wie der Revision in Saarbrücken oder der Evoke in Köln, um dort ein Wochenende lang zu tüfteln und dann zur entsprechenden Deadline ihre Ergebnisse vorzustellen. Auf der Revision gibt es zum Beispiel gleich mehrere Music Competitions. Leider habe ich es die ganzen letzten Jahre zeitlich einfach nicht geschafft, live dabei zu sein, aber ich verfolge das Ganze immer über YouTube und Co. mit.

Die Scener treffen sich alljährlich auf Demopartys.

Aber Du hast ja auch selbst schon einige Projekte für Dich umgesetzt.

Leo: Ja klar, ich selbst habe schon auf dem C64 angefangen, Musik zu machen, habe auch mal Tracker ausprobiert, bin aber momentan echt beim Gameboy hängengeblieben. Ich schätze, ich bin zur Zeit allerdings weniger aktiv, als ich mir manchmal wünschen würde, habe aber auf jeden Fall vor, mein Projekt 8-Bit-Resurrection noch auszubauen.

Relativ erfolgreich war ich vor ein paar Jahren bei einem Remix-Wettbewerb für die Band Atari Teenage Riot. Da Alec Empire von ATR mal ein Chiptune-Album (auf dem Gameboy) gemacht hat, hatte ich mich entschieden, einen Remix im C64-Stil zu liefern. – Allerdings habe ich ein wenig geschummelt, weil ich für das Projekt keinen echten C64 benutzt habe, sondern das VST Plugin „QuadraSID“, welches den C64-Sound emuliert. Die Juroren und die Band waren aber zum Glück trotzdem ziemlich begeistert.

Gameboy plus externe Effektgeräte

Hast Du noch ein paar Tipps für Leute, die jetzt Lust bekommen haben, sich mal etwas genauer mit Chiptunes zu beschäftigen?

Leo: Hm. – Superinteressant ist zum Beispiel auf jeden Fall die Option, den Gameboy mit externen Effektgeräten zu verbinden. Es gibt zum Beispiel viele Setups, bei denen die Leute ihren Gameboy mit Gitarrenbodentretern verbinden oder auch ein Korg Kaoss Pad dazwischenschalten. Auch die Kombi aus kleinen, analogen Synthesizern und Drum Machines und dem Gameboy ist sehr beliebt.

 

 

Weiterführende Infos

Für alle, die sich mit Retro-Computern, Spielen, Chipmusic oder der Demoszene auseinandersetzen möchten, empfehle ich auf jeden Fall folgende Seiten:

  • Return: Magazin, das mittlerweile auch als Print-Magazin erhältlich ist und sich mit allem auseinandersetzt, was retro ist.
  • Retro: Onlinemagazin, in dem man ebenfalls alles über Retro-Games erfahren und auch Veranstaltungsinfos abgreifen kann.
  • pouet.net: Community, die sich allgemein mit der Demoszene befasst, über Demopartys informiert und auf der man sich jede Menge Releases ansehen kann.
  • chiptune.com: Hier kann man sich jede Menge Chiptunes anhören und findet viele Hintergrundinformationen.
  • chipmusic.org: Chiptune-Community

Wer mal in Berlin zu Besuch ist, dem lege ich unbedingt das Computerspielemuseum ans Herz. Dort gibt es auch regelmäßig Sonderausstellungen und ab und an sogar Chipmusic-Konzerte. Ich selber habe bei der „Langen Nacht der Museen“ dort vor ein paar Jahren auch schon ein Konzert besucht.

Und natürlich haben die meisten Chiptune-Musiker Webseiten und Social-Media-Accounts. Wer beispielsweise nach relevanten Hashtags sucht (#8bit #chiptunes #demoscene #lsdj #gameboy #c64), wird auf jeden Fall fündig. Hier aber trotzdem noch einige Linktipps zu Künstlern aus der Szene:

  • dubmood
  • 8-Bit Operators (haben Kraftwerk, Depeche Mode und die Beatles auf Retro-Konsolen gecovert)
  • 8 Bit Weapon
  • Chipzel
  • Waterflame (komponiert viel Videospielemusik; seine Stücke wurden zum Beispiel für das Xbox 360 Spiel „Castle Crashers“ verwendet)
  • Trey Frey
  • zabutom
  • 4mat
  • MegaDriver (klassische Spielemusik als Heavy Metal – Versionen)
  • Machinae Supremacy (Rockband aus dem Alternative-Bereich, die SIDstation benutzt; empfehlenswert zu hören ist die „Sidology“-Serie, bei der klassische C64-Tunes gecovert wurden)

Equipment-Tipps

Equipment-Tipps: Synthesizer und Effekte, die sich zur Ergänzung eines herkömmlichen Gameboy-Chiptune-Setups für Chiptune-Projekte eignen:

Klassisches Orchester goes Chiptunes

Zum Schluss wollen wir Euch einen spannenden Bogen zum Anfang unserer Unterhaltung nicht vorenthalten: Auch klassische Musiker mit ganz klassischen Orchesterinstrumenten haben mittlerweile die Chiptunes für sich entdeckt. So hat beispielsweise das WDR-Rundfunkorchester die Hülsbeck-Kompositionen zu „The Great Giana Sisters“ aufgegriffen und neu interpretiert. Chiptunes – ein wirklich kultiges Thema, dem keine Grenzen gesetzt sind!

 

 

Glossar

MIDI
ausführliche Erklärungen zum Begriff und zur Technik siehe Was ist eigentlich ein MIDI-Keyboard?

Panning
Lautstärkeverteilung eines Audiosignals auf den rechten und linken Kanal (Stereopanorama)

Samples
Sounddateien; Dateien, die digitale Informationen zu Klängen/Tönen/Tonhöhen enthalten

Samplingrate
= Abtastrate; Begriff aus der Signalverarbeitung; die Samplingrate wird in der Einheit Hertz (Hz) angegeben und beschreibt die digitale Klangqualität eines Audiosignals. Je höher die Samplingrate, desto höher ist die Klangqualität. Zum Vergleich: während die in diesem Blogbeitrag angesprochenen Sounddateien, die durch Tracker angesteuert werden, eine Samplingrate von 8 kHz besitzen, haben CDs beispielsweise eine Abtastrate von 44,1 kHz. Die Samples aus dem Bereich Chiptuning sind also sehr einfach gehalten und auf ein Minimum reduziert.

 

Quellen/Bilder:
de.wikipedia.org/wiki/Abtastrate
de.wikipedia.org/wiki/Chiptune
de.wikipedia.org/wiki/Chris_Hülsbeck
de.wikipedia.org/wiki/Commodore_64
de.wikipedia.org/wiki/Dubmood
de.wikipedia.org/wiki/Panoramaregler
facebook.com/watch/?ref=external&v=982594935112747

Letzte Aktualisierung:

Dieser Beitrag wurde am von in News & Trends veröffentlicht.

Von Jutta Kuehl

Jutta Kühl, PR und Texterin bei Musikhaus Kirstein GmbH.